Kennen Sie die Situation: Sie halten auf einer Fachkonferenz einen leidenschaftlich-ambitionierten Vortrag, der sehr technisch und daher für die meisten Zuhörer recht anspruchsvoll ist. Sie sind kein Profi-Redner, der den ganzen Tag auf Bühnen zu Hause ist, aber Sie machen Ihren Job gut. Sie schauen in die Gesichter der Zuhörenden und stellen erst sich, nach wenigen Minuten aber auch den Zuhörern die Frage, ob dies alles soweit verständlich sei. Alle nicken. Sie schauen in die vielen Augenpaare und können nur hoffen, dass dies auch stimmt. Zu diesem Zeitpunkt haben Sie bereits Zuhörer verloren, je nach Komplexität Ihres Themas mehr oder weniger. Denn: keiner traut sich, die Hand zu heben und zu fragen. Irgendeine Frage, die vielleicht schon viele seit Minuten bewegt, die inzwischen nicht mehr folgen können. Wie zum Beispiel: „Was ist denn eigentlich dieses Ädd Täck?“
„RTB“: erste Aufmerksamkeit schaffen
Offen und mutig die vermeintlich „dummen“ Fragen zu stellen ist leider ein seltenes Phänomen, vor allem bei Fachkonferenzen und vor einem größeren Publikum. Und genau diese Unsicherheit ist das größte Problem des Vortragenden: er hat gar keine Ahnung, wann und wo er wie viele Zuhörer verliert.
Hierzu eine persönliche Bemerkung: Als unsere Agentur Anfang 2011 mit dem ersten Kunden AppNexus geboren wurde, war der deutsche Werbemarkt noch weit davon entfernt, überhaupt auf die Idee nach Fragen zu Advertising Technologien zu kommen. Wie auch? Der Begriff „Programmatic“ war noch nicht geboren, aber ein sogenanntes „RTB“, Real Time Bidding, huschte als erstes gehyptes Buzzword durch den Markt. Wie so oft kam dieser „Trend“ aus den USA, und er wurde mit der typisch deutschen Grund-Skepsis erst einmal weitestmöglich ignoriert. Wo das Thema gar zu aufdringlich wurde, trat offene Reaktanz zu Tage: „Wir wollen Euch nicht“, so ein Entscheider einer großen Mediaagentur. Er habe mit Google nach anfänglich guter Zusammenarbeit auch schlechte Erfahrungen gemacht. Der Marktanteil von RTB- oder gar programmatischen Lösungen war zu diesem Zeitpunkt nicht klein, vielmehr homöopathisch.
Hier hatte die PR zu Beginn eine herausfordernde Aufgabe: es ging gar nicht nur darum, ein Unternehmen, die dort handelnden Personen oder ein Produkt bekannt zu machen. Es ging vielmehr um die Disruption eines gesamten Marktes: den Werbemarkt und damit verbunden die Geschäftsmodelle werbefinanzierter Medien, unserer nationalen Leitmedien. Es ging um die Vielfalt von Medienangeboten, oder noch weiter gedacht: um Meinungsfreiheit und unsere Demokratie, in der Medien eine wichtige Rolle in der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wahrnehmen.
So weit dachte ich damals allerdings noch nicht. Vielmehr beschäftigte mich die Frage, wie ich Erfahrungen aus meiner Arbeit für DoubleClick einbringen konnte. Dort hatten wir Anfang der Nuller-Jahre die Aufgabe, ein sehr technisches und komplexes Produkt im deutschen Markt „beliebter“ zu machen. Dies funktionierte neben klassischen PR-Maßnahmen über regelmäßige exzessive Partys sehr gut. So kamen wir zumindest erst einmal in die Herzen der potenziellen Kunden – das Hirn musste dann im späteren Verkaufsgespräch überzeugt werden. Hier, im neuen und noch sehr jungen Zeitalter des programmatischen Werbemarktes, mussten umfassendere Kommunikations-Strategien her.
Das erste Ziel hieß: Aufmerksamkeit schaffen und das Thema im Markt einführen. „PR“ hieß damals nämlich nicht Unternehmens- oder Produktkommunikation. Nein, es ging zunächst darum, einen ganzen Markt mit auf die Reise zu nehmen: im Kern Publisher und Vermarkter, Werbetreibende, Mediaagenturen, dazu Journalisten, die anfangs noch nicht so recht davon überzeugt waren, warum das Thema für ihre Leser von Relevanz sein könnte. Auch meine Kollegen und ich lernten hier von Tag zu Tag mehr, nicht zuletzt, was das Vokabular anging: SSP, DSP, DMP, ... Es war intensiv und anfangs eher eine Arbeits- als eine romantische Beziehung.
Programmatische Technologien und der deutsche Markt: erklären und Relevanz aufzeigen
Wir alle wissen: Veränderungen und deren Auslöser sind meist unbequem. Vor allem, wenn man sie nicht wirklich versteht oder besser: verstehen kann. Programmatische B2B Online Werbe-Technologien dürfen wir hier getrost hinzuzählen. Welcher klassische Marketer, Planer oder Vermarkter mag sich schon gerne damit auseinandersetzen?
Das Ziel der Kommunikation hieß Market Education. Also den Erklär-Bär geben, worum es hier eigentlich geht. Klingt drollig, war aber eine immense kommunikative Herausforderung. Und ist es teils auch heute noch. Erste Maßnahmen waren klassische PR Tools wie Artikel und Pressemitteilungen, Interviews, Zahlen und Analysen zum Markt kommunizieren, vor allem aber auch Case Studies mit Partnern im Markt. Gerade Case Studies lieferten handfeste Argumente für den Einsatz neuer Technologien anhand konkreter Beispiele. Dazu brachte die gemeinsame Positionierung in den Medien mit einem Partner immer eine hohe Glaubwürdigkeit.
Bis diese ersten gemeinsamen Erfolgs-Geschichten in der Presse platziert werden konnten, brauchte es allerdings viel Geduld. Zwar nahm die Reaktanz auf das Thema generell ab, erste Testphasen mit den neuen Technologien brauchten aber Zeit. Und nicht jeder mochte darüber öffentlich sprechen. Während sich die Werbe-Technologien in den USA rasch durchsetzten, lernten wir in den europäischen Märkten, dass die lokalen Marktgegebenheiten nicht nur im realen Leben, sondern auch in der digitalen Welt anders sind. Die technologischen Lösungen wurden daher oft zeitverzögert und in adaptierten Formen umgesetzt, was die Überzeugungsarbeit natürlich nicht einfacher machte.
Angesichts der zunehmenden Komplexität des Themas und der sehr diversen Zielgruppen, die erreicht werden sollten, bestand die kommunikative Herausforderung darin, „hausfrauengerechte“ Botschaften zu entwickeln, die genau für diese Zielgruppen im aller ersten Schritt verständlich waren. Diese Botschaften hatten natürlich nicht den Anspruch, die Technologie oder die Disruption des Marktes umfassend zu erklären. Sie sollten vielmehr die Zielgruppen von ihrem aktuellen Alltag abholen und einfach begreiflich machen, warum dieses Thema für sie relevant ist. Deshalb, weil sie sonst vielleicht etwas verpassen, wie z.B. die Sicherung ihrer zukünftigen Marktanteile.
Die Simplifizierung gerade technisch komplexer Themen ist alles andere als trivial. Und man muss eine Art doppelte Unzulänglichkeit „aushalten“: zum einen versteht der PR-Profi üblicherweise nicht im Detail das Produkt, zum anderen formuliert er Botschaften, die selbst bei bestem Basis-Wissen gar nicht eine hundertprozentige Erklärung des Produkts abbilden können. Beispielsweise bin auch ich kein IT-Profi, werde so u.a. nie in Gänze verstehen, wie genau ein Ad Server funktioniert, aber das „darf“ ich auch nicht – denn dann laufe ich „Gefahr“, mich zu sehr im Fachjargon zu bewegen und so nicht mehr die einfache Sprache zu finden, um die Zielgruppen zu erreichen. Hier hat PR eine wichtige Aufgabe: sie muss die Brücke bilden zwischen den Technologie-Anbietern und den traditionell analog agierenden Markteilnehmern. Und übersetzen, was die Technologien an Mehrwert nicht nur für das Business der einzelnen Marktteilnehmer, sondern auch für den gesamten Markt bieten. Das ist keine einfache Aufgabe, die PR aber vor allem mit Inhalten lösen kann – kombiniert mit viel Leidenschaft für das Thema Programmatic.
Vertrauen aufbauen: der Weg ist auch nach zehn Jahren noch lange nicht zu Ende
Heute, fast ein Jahrzehnt nach Einführung der neuen Werbe-Technologien in den deutschen Markt, ist das Thema Programmatic bzw. datengetriebene Technologien für die gesamte Werbewirtschaft gesetzt. Fast alle Marktteilnehmer haben ihre Strategien und Lösungen entsprechend implementiert oder blicken zumindest auf umfangreiche Test-Szenarien zurück. Die anfängliche Skepsis weicht immer mehr validen Business-Modellen. Der gesamte Markt liegt allerdings hinsichtlich seiner Entwicklung aber weiterhin hinter dem US-amerikanischen Markt zurück. Ein Grund hierfür ist, dass viele „Hausaufgaben“ seitens der Technologie-Anbieter immer noch nicht gemacht wurden. Hierzu gehören Themen wie Ad Fraud, Brand Safety und Bot Traffic. Befeuert wird die Unsicherheit auch durch ein von Fake News und Hate Speech geprägtes Umfeld. Vor allem aus Sicht der Werbetreibenden sind Fragen der Brand Safety und Transparenz noch nicht hinreichend gelöst. Dieses Umfeld bedarf stärkerer kommunikativer Anstrengungen und Maßnahmen, um Vertrauen langfristig (wieder) aufzubauen.
Gleichzeitig bleibt der Markt angesichts der jüngsten Konsolidierungen weiter in Bewegung. Unternehmensübernahmen und -zusammenschlüsse machen angesichts eines jahrelang sehr unübersichtlichen Ökosystems Sinn, in dem Kunden Lösungen aus einer Hand wollen und viele ehemals eigenständige Technologie-Produkte zu Features einer umfassenden Marketing-Produkt-Suite werden.
„AdTech PR ist in UK tot“, proklamierte jüngst eine Kollegin mit einem etwas resigniertem Ton auf einer Branchenveranstaltung. Stecken Programmatic und PR in solch einer tiefen Krise? Ich kann dem für den deutschen Markt nicht zustimmen. Lediglich die Herausforderungen für die Kommunikation wandeln sich, und das steht in einem natürlichen, kausalen Zusammenhang mit der zunehmenden Marktreife. Gleiches gilt im übrigen auch für die Use Cases: von der Positionierung eher singulärer, in Produktkategorien benennbarer Software-Lösungen hin zur Kommunikation eines Gesamt-Angebots, aus dem sich ein Unternehmen ja nach Positionierung, Zielen und Zielgruppen im lokalem Markt das passende Modell bauen kann. Und parallel zur Konsolidierung sind es weiterhin die zahlreichen Start-ups, die Innovationen für den digitalen Werbemarkt produzieren. Beispiele finden sich z.B. im Bereich Mobile, Analytics oder Creativity. Gerade die Kreation wurde in den ersten Jahren vernachlässigt, als es nur um Software, wenig aber um Inhalte und Emotionen ging. Und dafür ist die Werbewirtschaft, oder genauer: die Kommunikation im weitesten Sinne ja bekannt.
Programmatic, Data und Innovation: die (kommunikative) Reise geht weiter
Im Zeitalter, in dem programmatische Lösungen im Online-Werbemarkt auf dem Weg zur „commodity“ sind, dürfen wir heute ohne Zweifel feststellen: Datengetriebene Modelle und automatisierte Lösungen sind „here to stay“. Ich gehe aber weiter und behaupte: Dies ist erst der Anfang. Datengetriebenes Marketing wird durch immer differenzierteres Targeting über verschiedene Kanäle und bessere Messbarkeit das klassische, analoge Marketing weitgehend ablösen. Junge Zielgruppen, die bereits heute geräte-agnostisch Inhalte und Kommunikations-Dienste nutzen, sind über die klassischen Massenmedien nicht mehr erreichbar. Die Zukunft der Werbung ist digital, „social“ und mobil. Der vergleichsweise immer noch sehr junge Markt wird auch in den nächsten Jahren zahlreiche Innovationen erleben. Die Komplexität der Frage, wie die Zielgruppen in diesem Marktumfeld effektiv erreicht werden können, nimmt zu. Unternehmen brauchen eine klare Strategie, wie sie eigene Daten, sogenannte „First Party Data“, aufbauen bzw. zusätzliche Daten nutzen möchten, um weiterhin erfolgreich zu sein.
Der Bedarf, die Themen in diesem Umfeld zu strukturieren, zu evaluieren und zu positionieren, wird in diesem Umfeld zunehmen. Hier wird auch die PR weiterhin ihren Beitrag leisten. Und dies mit immer breiteren thematischen Schwerpunkten, die weit über die programmatischen Software-Innovationen Anfang der Nuller-Jahre hinausgehen.
Und auch dann beantworten wir gerne die Frage: „Was ist denn eigentlich dieses Ädd Täck?“
Prof. Dr. Julia Schössler
schoesslers
julia@schoesslers.com